Folge 10: Bettina Pousttchi
Heute gehen wir noch einmal in unseren schönen Skulpturenpark! Ihr habt ja schon den „Denker“ von Auguste Rodin und den „Spiralpavillon“ von Olafur Eliasson hier im „Kindermuseum“ kennengelernt. Und vielleicht habt ihr auch schon weitere Skulpturen betrachtet!
Skulptur – Was ist das denn überhaupt?
Zur Beantwortung dieser Frage laden wir dich gern zu einem Besuch des Skulpturenparks der Kunsthalle Bielefeld ein. Skulpturenpark wird dieser Park genannt, weil hier Skulpturen ihren Platz haben, siebzehn sind es inzwischen. Du gehst am besten einmal ganz um das Gebäude der Kunsthalle herum, um sie alle zu entdecken.
Im Gegensatz zu den Kunstwerken, die du dir in der Kunsthalle anschauen kannst, darfst du diese Kunstwerke im Außenraum berühren. So kannst du die Materialien, aus denen sie gearbeitet worden sind, spüren: Stein, Bronze, Holz, Edelstahl oder Glas. Auch spürst du Höhlungen und Wölbungen.
Sicher wird dir hier vor Ort beim Betrachten der einzelnen Werke sehr schnell klar, was sich hinter diesem Begriff “Skulptur” verbirgt. Und was eine Skulptur von einem Gemälde unterscheidet.
Ist euch aufgefallen, dass fast alle Skulpturen in unserem Park von männlichen Künstlern stammen? Die Arbeit „Viktoria“ aus dem Jahr 2013, mit der wir uns heute beschäftigen, stammt von Bettina Pousttchi (*1971) und sie ist damit die einzige in unserem Park, die von einer Frau geschaffen worden ist. Bettina Pousttchi ist also die einzige hier vertretene Künstlerin!
Viktoria, 2013
Straßenpfosten, pulverbeschichtet
89,5 x 102 x 125 cm
Foto: Veit Mette
Collage: Vera Brüggemann
© Kunsthalle Bielefeld
Das Werk wurde 2015 für den Skulpturenpark der Kunsthalle gekauft und dort 2016 aufgestellt. Den Standort an einer Weggabelung hat die Künstlerin selbst ausgesucht.
Bettina Pousttchi arbeitet gern mit Pollern, Straßenpfosten, Absperrgittern, Fahrradständern, Baumschutzbügeln oder auch mit Leitplanken. Verformt, in Gruppen zusammengestellt, sehen diese Gegenstände fast aus, als würden sie sich unterhalten.
Vielleicht ist dir diese Skulptur im Skulpturenpark schon aufgefallen. Wenn nicht, musst du unbedingt mal vorbei kommen; du wirst sie sicher schnell entdecken.
Bettina Pousttchi nutzt für ihre Skulpturen sehr gerne Gegenstände, die sie in der Stadt vorfindet. Sie beschäftigt sich mit dem Stadtraum. Was prägt eine Stadt? Wie sieht unsere Stadt aus? Wie wirken Häuser auf uns? Das kennt ihr: Manche erscheinen einladend und andere eher kalt und abweisend. Es ist ein Unterschied, ob es sich um ein Privathaus handelt oder einen Büroturm, eine Fabrik oder eine Schule. Und habt ihr schon einmal erlebt, dass ein Haus abgerissen wurde? Auch wenn ihr das Haus lange kanntet, erinnert ihr euch schon nach kurzer Zeit nicht mehr so ganz genau an das Haus. Das zeigt ein wenig, womit sich Bettina Pousttchi beschäftigt. Sie möchte uns „wachrütteln“ und aufmerksam für unsere Umgebung machen. Bei ihren Streifzügen durch die Stadt fiel ihr auf, dass oft Dinge herumstehen, von denen man gar nicht mehr weiß, wofür sie eigentlich von Nutzen sind. Deshalb hat sie angefangen, mit diesen Dingen Skulpturen zu bauen. Sie verbiegt und verdreht sie, lackiert sie in anderen Farben und nimmt sie vor allem aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang heraus. Also weg von der Baustelle oder der Straßenkreuzung. Dann erscheinen Straßenpoller wie ineinander verschlungene grüne Pflanzen, verbogene Leitplankenstücke leuchten als knallorange Ausrufezeichen auf und Fahrradständer werden zu hoch aufragenden Skulpturen, die sich gegen den Wind zu stemmen scheinen.
Und wie wirkt die Arbeit im Skulpturenpark auf euch? Ihr könnt sie jederzeit besuchen und anschauen. Probiert es aus – und schaut „Viktoria“ ruhig einmal aus der Ferne und dann ganz detailliert aus der Nähe an. Bettina Pousttchi berücksichtigt nämlich die unterschiedlichen Ansichten und möchte uns damit immer neue Blickwinkel, Ideen und Anregungen ermöglichen.
Wer ist überhaupt diese Bettina Pousttchi? Wie sieht sie aus? Sicher bist du neugierig geworden.
In den Filmen der Berlinischen Galerie und der Schirn Kunsthalle Frankfurt lernst du sie etwas kennen.
https://www.youtube.com/watch?v=5Yv1w_dDxR8
https://www.youtube.com/watch?v=NNLxdIZ4fbo
20 ehemalige Straßenpfosten stehen also hier an der Weggabelung als Gruppe dicht nebeneinander. Sie sind anthrazitfarben und pulverbeschichtet, also zum einen farblich bearbeitet und verändert. Und zum anderen sind sie gebogen und scheinen sich aneinander zu schmiegen oder sich voreinander zu verneigen. Fast vergisst man, dass sie aus Metall sind. Sie wirken eher weich und gummiartig. Fast wie Lebewesen, die miteinander sprechen. Und was hätten sich die Pfosten wohl alles zu erzählen?
Die Arbeit „Viktoria“ stammt aus der Serie „Squeezer“, was Presse oder Quetschmaschine bedeutet. Das Ausgangsmaterial sind immer die aus dem Stadtraum bekannten Poller. Und sie sind verbogen, gedrückt, gequetscht und einheitlich grau!
Diese Metallarbeiten führt die Künstlerin übrigens nicht selber aus, sondern eine Werkstatt in Lichtenrade bei Berlin. Das ist typisch für die so genannte Konzeptkunst, die in den 1960er-Jahren entstand. Hier haben Künstler*innen eine Idee, entwerfen, skizzieren den künstlerischen Vorgang, den aber andere, nämlich Handwerker und Spezialisten, ausführen.
Die einzelnen Arbeiten der Serie „Squeezer“ heißen „Flora“, „Gretel“, „Werner“, „Gerald“ und unsere „Viktoria“. Diese Namen unterstützen den Eindruck, dass man glaubt, Figuren zu erkennen, die ihre Köpfe zusammenstecken. Die Künstlerin hat die Arbeiten jedoch nach Straßen in Berlin benannt, wo sie lebt. Damit unterstreicht sie ihre Idee, Skulpturen aus der Stadt für die Stadt zu bauen. So ist die Arbeit «Viktoria» eigentlich nach einer Viktoriastraße in Berlin benannt, aber Bettina Pousttchi hat zugestimmt, dass sich die Arbeit hier in Bielefeld auch auf die hiesige Viktoriastraße beziehen kann.
Der Künstler Jasper Johns, er wurde in diesem Jahr 90 Jahre alt, notierte in seinem Skizzenheft den Satz: „Nimm einen Gegenstand. Mach etwas damit. Mach etwas anderes damit.
Dieser Satz scheint ein Leitsatz für die Arbeit Bettina Pousttchis geworden zu sein. So sieht sie zum Beispiel all diese Poller, Absperrgitter, Fahrradständer oder auch Leitplanken und macht etwas damit und zwar etwas anderes. Sie nutzt diese Gegenstände nicht, um etwas abzusperren oder umzuleiten, sie verformt sie und gestaltet Skulpturen damit, Skulpturen, die teilweise fast menschliche Züge annehmen. Die Figuren sprechen oder tanzen sogar miteinander.
Schau dich in deiner Umgebung einmal genau um! Gibt es dort auch Gegenstände, die du nutzen kannst? Mit denen du etwas machen kannst, etwas, das mit ihrer eigentlichen Funktion nichts mehr zu tun hat, eben etwas anderes.
Wie wäre es z. B. mit Bleistiften, Schnüren, oder gibt es vielleicht in der Küche etwas Interessantes? Sicher findest du etwas und dann verändere, verfremde diesen Gegenstand!
Habt ihr Lust, weitere Arbeiten der Künstlerin anzuschauen? Ihr werdet staunen, denn es sind nicht nur Skulpturen, die ihr entdecken werdet:
https://www.pousttchi.com/works
Sicher seid ihr verwundert, dass ihr auch Fotoarbeiten und Videos neben weiteren Skulpturen der Künstlerin seht. Bettina Pousttchi arbeitet sehr vielseitig! Sie hat auch nicht nur Kunst in Paris und Düsseldorf studiert, sondern auch Kunstgeschichte und Film.
Eine berühmte und viel gelobte Arbeit ist z. B. „Echo“ in Berlin. Dafür hat die Künstlerin von Fotos des 2006 – 2008 abgerissenen Palastes der Republik, einem wichtigen Gebäude in der ehemaligen DDR, schwarz-weiß Fotos gemacht. Diese hat sie auf 970 große Papierposter gedruckt und sie auf allen vier Seiten an der “Temporären Kunsthalle Berlin” auf Zeit angebracht, einem Gebäude, das genau dort aufgebaut war, an dem der Palast der Republik zuvor gestanden hatte. Die Menschen, die den abgerissenen Palast kannten, haben ihn so wiedererkannt und andere sind sicher neugierig geworden, sich mit Bildern und der Geschichte des Palastes der Republik zu beschäftigen. Bettina Pousttchi hat damit Geschichte in den Alltag der Menschen getragen und sie „wachgerüttelt“, ihnen Lust gemacht, sich mit ihrer Stadtgeschichte auseinanderzusetzen.
https://www.pousttchi.com/works/echo-berlin
Eine weitere Arbeit ist die „World-Time-Clock“, die ihr hier sehen könnt:
https://www.pousttchi.com/works/photo/world-time-clock
Dafür hat Bettina Pousttchi sieben Jahre lang auf der ganzen Welt öffentliche Uhren fotografiert und zwar immer um fünf Minuten vor zwei. Wirkt das nicht wie eine wunderbare Gemeinsamkeit aller Menschen? Ihr wisst sicher, dass es Zeitzonen gibt, es zum Beispiel in New York Mittag ist, wenn bei uns Abend ist. Wusstet ihr, dass es bis ins 19. Jahrhundert sogar in Deutschland unterschiedliche Zeiten in Berlin und München gab? 1884 haben dann Wissenschaftler die bis heute gültigen Zeitzonen eingerichtet. Sie richten sich nach dem Nullmeridian, also dem nullten Längengrad, in Greenwich bei London – dort ist sozusagen die Grundzeit! Alle Zeitverschiebungen orientieren sich seither an dieser Zeit.
Aber Bettina Pousttchi interessierte noch ein anderer Aspekt: Lange hatten gar nicht alle Menschen das Geld für eine eigene Armbanduhr oder eine Uhr zuhause. Deshalb wurden an vielen wichtigen Gebäuden Uhren angebracht. Bis heute gibt es keinen Bahnhof ohne eine öffentliche Uhr.
Wenn ihr demnächst durch die Stadt geht, werdet ihr sicher immer mal wieder an Bettina Pousttchi denken. Wir wünschen euch viel Spaß beim Entdecken dieser Künstlerin und ihren Werken.
Und ihr wisst ja, wir freuen uns über Fotos von euren Arbeiten oder ihr kommt einfach einmal in die Kunsthalle und zeigt sie uns!
Herzliche Grüße – Karola, Christiane und Matthias