Folge 9: Agnes Martin
Für diese Folge des Teens-Clubs haben wir das Werk „Untitled No. 17“ aus dem Jahr 1980 der kanadisch-amerikanischen Künstlerin Agnes Martin (1912 – 2004) ausgewählt.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, auf ein Kunstwerk zuzugehen. Heute versuchen wir das einmal mit einem Gedicht. Kennt ihr ein Elfchen? Das ist ein freies Gedicht, das aus elf Wörtern besteht. Schaut mal:
Erste Zeile ein Wort/Titel _____
Zweite Zeile zwei Wörter _____ _____
Dritte Zeile drei Wörter _____ _____ _____
Vierte Zeile vier Wörter _____ _____ _____ _____
Fünfte Zeile ein Wort. _____
Wir laden euch zu drei Gedichten ein. Das erste trägt den Titel Quadrat. Was sind eure spontanen Gedanken oder Assoziationen dazu? Ihr könnt Adjektive, Nomen oder Verben einsetzen, was euch einfällt. Ihr könnt die Wörter einfach aneinanderreihen oder kleine Sätze bilden. Ein zweites Elfchen könntet ihr zum Thema Linie schreiben und ein drittes zur Farbe Weiß! Der Titel ist auch jeweils das erste Wort des Elfchens. Los geht´s!
So eingestimmt, schauen wir uns jetzt das Gemälde an, denn ihr seid hoffentlich neugierig geworden. Warum diese drei Begriffe? Bestimmt bestätigen sich einige eurer Gedanken, ihr entdeckt aber hoffentlich auch Neues! Dazu jedoch später. Jetzt wollen wir uns Zeit nehmen, um zu schauen! Viel Zeit! Das wäre natürlich vor dem Original schöner und würde euch sicher weitere Erfahrungen offenbaren, die eine Abbildung kaum vermitteln kann. Aber es ist ein Anfang!
Agnes Martin möchte in allen ihren Werken eine Wirkung erzielen, die sie so beschrieb: “Ich möchte eine gewisse Reaktion hervorrufen… keine spezielle Reaktion, sondern eine Reaktion in der Art, wenn Menschen sich selbst vergessen, wie man es oft in der Natur erlebt, einer Erfahrung einfacher Freude.” Ob es ihr gelingt?
Untitled No. 17, 1980
Gesso, Acryl und Grafit auf Leinwand 183 x 183 cm Kunsthalle Bielefeld
Foto: Philipp Ottendörfer © VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Schaut genau hin! Auf der großen quadratischen Leinwand entdeckt ihr breite farbige Streifen, die sich mit jeweils schmalen weißen Streifen abwechseln. Diese Farbfolge wiederholt sich dreimal. Die weißen Streifen werden von dünnen, kaum sichtbaren Bleistiftlinien begrenzt. Eine weitere Bleistiftlinie verläuft am Rand des Bildes. Diese Linien sind nicht durchgehend gezogen, sondern manchmal auch unterbrochen. Die Streifen bedecken die gesamte Leinwand. Farbige Streifen? Ja, es sind die Grundfarben Rot, Blau und Gelb, die mit Weiß so stark aufgehellt sind, dass sie als Hellrot oder sogar Rosa, Hellblau und Hellgelb erstrahlen. Die Oberfläche scheint durch den zarten Farbauftrag, der teilweise so dünn ist, dass die Leinwand mit ihren Strukturen durchscheint, matt glänzend und schimmernd. Auch diese Leinwand ist, wie die meisten Arbeiten der Künstlerin, in einem Metallrahmen so positioniert, dass eine Fuge ringsum frei bleibt und dem Bild einen weiteren Rahmen verleiht. Keinen Titel zu geben, ist auch typisch für die Künstlerin, die ansonsten lediglich Farbnamen oder Gegenstände als Titel wählt.
Welche Wirkung hat dieses Bild auf uns? Ihr könnt eure ersten Reaktionen notieren. Lest danach einmal euer Elfchen zum Quadrat. Bereits mit der Wahl dieses selten genutzten Formats, das keine Richtung betont, hat Agnes Martin die Wirkung initiiert, die ihr wichtig war. Ein Quadrat wirkt unbewegt, ruhig, neutral und ausgewogen. Sicher habt ihr auch einige dieser Merkmale notiert! Seit 1977 arbeitete Agnes Martin ausschließlich mit dem Format 183 x 183 cm. Dieses Maß bezieht sich auf die menschlichen Proportionen. Vielleicht kennt ihr diese kleine Studie von Leonardo da Vinci (1452 – 1519), die sich mit den menschlichen Proportionen befasst. Sie findet sich auch auf vielen Versicherungskarten von Krankenkassen. Seht ihr den Menschen im Quadrat?
Und nun das Elfchen zur Linie. Mit der Linie schafft Agnes Martin Ordnung und Struktur, was durch die Wiederholung verstärkt wird. Sie zog die Linien mit kurzen oder langen Linealen und auch teilweise freihändig. Sie sind manchmal so fein, dass sie fast zu verschwinden scheinen und wie ein Teil der Leinwand wirken. Wir können auf jeden Fall immer nachvollziehen, dass sie von Hand gezogen wurden. Agnes Martin begrenzte die horizontalen Linien, die ja gedacht außerhalb des Bildraumes unendlich weiter verlaufen könnten. Die Bleistiftumrandung unterstützt diese Wirkung. Diesen Prozess können wir uns auch gut in vertikaler Richtung vorstellen: Unendlich könnte diese Linien- und Farbenfolge sich über- und unterhalb des Bildes fortsetzen.
Anregung 1
Kleine, quadratische Notizzettel, zumeist im Block erhältlich, Bleistifte, alternativ auch Filzstifte – wie Agnes Martin benötigst du nur eine reduzierte Auswahl an Mal- und Zeichenmitteln.
Charakteristisch für die Zeichnungen der Künstlerin sind das streng quadratische Bildformat und das Spiel der mit Bleistift oder Filzstift gezogenen horizontalen und/oder vertikalen Linien, parallel zum Rand des Blattes verlaufend.
Diese dadurch entstehenden Gitter- und Rasternetze tauchten selbst zwischen privaten Aufzeichnungen der Künstlerin als kleine Skizzen auf, flüchtige, ohne Lineal „hingeworfene“ spontane Entwürfe.
Für ähnliche Skizzen sind die Notizzettel gedacht. Hier sollen keine perfekten Zeichnungen entstehen. Ohne abzumessen, ohne zu radieren und zu korrigieren dringe in die Welt der Horizontalen und Vertikalen ein.
Konzentriere dich nur auf deine Hand, den Stift, die Linien. Nimm dir Zeit!
Lass dich treiben von deinen Inspirationen. Du wirst sehen, nach und nach entwickeln sich die unterschiedlichsten Darstellungen, alle basierend auf gezeichneten Horizontalen und/oder Vertikalen.
Es geht nicht um Perfektion, lass Unregelmäßigkeiten zu. Lineare Abweichungen machen die Bildoberfläche lebendig.
Wir sind gespannt auf dein Spiel mit Horizontalen und Vertikalen.
Anregung 2
Du hast das Gefühl, die Linien fließen nur so aus deinem Bleistift? Sehr schön! Ja, mit der Zeit wirst du sicherer, deine Hand wird lockerer. Du wirst ein Gespür dafür bekommen, wie du den Stift am besten halten solltest und ob es besser ist, den Arm aufzulegen oder ihn schweben zu lassen. Und du wirst entdecken, dass du die Haltung je nach zu zeichnender Linie veränderst.
Künstler*innen wie Agnes Martin zeichnen täglich. Es ist wie im Sport: Tägliche Übungen bringen Sicherheit.
Und wie im Sport ist auch beim Zeichnen eine „Aufwärmphase“ sinnvoll. Lockerungsübungen – kritzel dich ein mit wilden Kreisen, Strichen und Formen! Und schon sind deine Hand und dein Kopf frei. Frei für deine Linien!
Benutze für die Aufwärmphase ein möglichst großes Blatt und denk vorm nächsten Zeichnen dran. Übe auch immer mal wieder, gerade Linien ohne Lineal zu ziehen.
Und nun zur Farbe! Wie bei den Bleistiftlinien bleibt die Arbeit der Künstlerin durch die Art des Farbauftrags bei der Gestaltung der horizontalen Streifen, die seit 1977 das Hauptthema der Künstlerin waren, immer spürbar. Wir können sie mit einem breiten Pinsel langsam und fast meditativ die Farben auftragen sehen. Mal dicker und dann wieder dünner aufgetragen, schimmert bisweilen auch die Leinwand mit ihren Strukturen durch. So ist der Prozess der Entstehung eines Gemäldes immer auch am Ende beim Betrachten nachvollziehbar. Agnes Martin wählte helle lichte Farben, denn mit dem Licht verband sie das Gute und Schöne. Bei den verwendeten Materialien (vgl. Bilddaten) findet ihr Gesso. Das ist eine Verbindung aus Leim, Kreide und weißen Farbpigmenten, mit der Agnes Martin die Leinwand grundierte und die Helligkeit der Farben unterstützte. Was habt ihr zu der Farbe Weiß geschrieben? Bestimmt finden sich auch bei euch Licht und Sonne und überwiegend positive Elemente. Die Künstlerin begann übrigens schon in den 1960er-Jahren hauptsächlich mit Weiß und aufgehellten Farben zu arbeiten.
Jetzt könnt ihr nachvollziehen, warum man sich Zeit lassen muss, um dieses Gemälde zu betrachten und auf sich wirken zu lassen. Nur dann offenbart sich sein Zauber. Anders würdet ihr nur eine weiße helle Fläche wahrnehmen – wie viele Betrachter*innen, die schnell daran vorbeigehen. Vielleicht denkt ihr aber auch: Warum ist das Kunst? Das kann ich doch auch! So dachte auch Annie Drew von der Guggenheim Collection. Sie wollte eine einfache Anregung für eine eigene Arbeit finden und glaubte, sie im Werk der Künstlerin Agnes Martin gefunden zu haben. Bis sie genauer hinschaute! Ihr Filmbeitrag ist in englischer Sprache, aber auch mit (noch) wenigen Sprachkenntnissen, könnt ihr sicher vieles gut verstehen und vor allem die Bilder anschauen. Nicht nur Arbeiten der Künstlerin könnt ihr in diesem Beitrag entdecken, sondern auch einige Orte, an denen sie gelebt hat und natürlich sie selber.
Bei Minute 7:01 seht ihr die Künstlerin übrigens auf einem Porträtfoto, das absolut inszeniert ist und viele Charaktereigenschaften der Künstlerin offenbart. Hier könnt ihr es noch einmal in aller Ruhe betrachten. Stellt euch vor, diese Frau käme in den Raum. Wie wäre euer erster Eindruck?
Aber bevor wir uns mit der Biografie der Künstlerin und Einflüssen auf ihr Werk beschäftigen, hier eine weitere Kreativanregung für euch:
Anregung 3
Mit Agnes Martins Welt der Horizontalen und Vertikalen bist du ja nun bereits vertraut. Du hast hoffentlich viele Ideen skizzieren können.
Die Linien ihrer Raster- und Gitternetze zog die Künstlerin oft frei ohne technische Hilfsmittel. Doch nutzte sie auch durchaus ein Lineal, um die Abstände zwischen den einzelnen Linien festzulegen und entlang diesem die Bleistiftlinie zu ziehen. Zuweilen lassen die Spuren das erneute Ansetzen des Bleistiftes erkennen.
Agnes Martins Ziel war nie die perfekte Zeichnung. Unregelmäßigkeiten, kräftig und weniger kräftig gezogene Linien, variierende Abstände, all das ließ sie zu.
Nicht Perfektion wollte sie erreichen, sondern Ruhe, Leere, Klarheit, Schönheit. Farbe, in pastellhaften Tönen, zurückhaltend, transparent aufgetragen, verstärkt diese Wirkung.
Wenn du, wie Agnes Martin, vom Quadrat ausgehen möchtest, schneide deine Papiere quadratisch zu. Nutze Aquarellpapier, solltest du später Wasserfarbe einsetzen, hast du so entsprechend saugfähiges Papier.
Wenn du die Zeichnungen von Agnes Martin anschaust, entdeckst du häufig ein Quadrat, parallel zum Bildrand gezeichnet, in das die horizontal und vertikal verlaufenden Linien gesetzt sind. Auch du kannst deine Arbeit entsprechend aufbauen. Vielleicht gefällt dir ja eine deiner kleinen Skizzen besonders gut. Nutze sie als Idee für deine erste Arbeit. Ziehe die Linien mit Hilfe des Lineals, miss die Abstände zwischen den einzelnen Linien ab.
Nimm dir Zeit, konzentriere dich nur auf dein Werk, das sich unter deinen Händen allmählich entwickelt. Zum Schluss entscheide dich für oder gegen den Einsatz von Farbe. Du kannst einzelne Bereiche, aber auch die gesamte Fläche einfärben.
Deine Arbeit wird sich danach sicher etwas wellen. Lass sie trocknen oder föhne sie, anschließend presse sie z. B. unter einem Bücherstapel.
Wie Agnes Martin hast auch du sicher schon während der Arbeit an deinem ersten Bild weitere Ideen entwickelt. So entsteht vielleicht eine ganze Serie, mal mit, mal ohne Farbe. Wir sind gespannt!
Anregung 4
Auf ihren quadratischen Leinwänden arbeitete Agnes Martin anfangs mit Öl-, später mit Acrylfarben. Die Bilder sind geprägt vom Zusammenspiel feiner Bleistiftlinien und zarter, kaum wahrnehmbarer Farbstreifen. Zeichnung und Malerei verbinden sich. Die Leinwand grundierte die Künstlerin mit einem speziellen Gipsgrund, auf diesen trug sie die Acrylfarben stark verdünnt, fast durchscheinend auf. Pastelltöne, ohne jeglichen Kontrast.
Für deine Arbeit benötigst du wieder Aquarellpapier im Format DIN A4 oder DIN A3.
Möglich ist aber auch eine Pappe. Wenn du, wie Agnes Martin, im Quadrat arbeiten möchtest, schneide dein Papier/deine Pappe entsprechend zu.
Weiter benötigst du Acrylfarben. Um auch für spätere Arbeiten eine Grundlage zu haben, wäre eine Anschaffung der drei Grundfarben (Rot, Gelb, Blau) und der Farbe Weiß sinnvoll. (Ein Schwarz würde deine Farben vervollständigen, wird hier aber nicht genutzt.)
Bereite deinen Arbeitsplatz vor. Decke die Arbeitsfläche ab, evtl. mit Zeitungspapier. Außer Papier/Pappe und Farben brauchst du Bleistifte, Pinsel, ein Lineal, ein Gefäß mit Wasser, Tücher, einen Teller zum Mischen der Farben und Klebekreppband.
Vielleicht gibt es unter deinen kleinen Skizzen eine, die du nun als Idee umsetzen möchtest. Also los!
Fixiere dein Papier mit Klebekreppband auf der Arbeitsfläche. Wenn du den Streifen des Klebebandes an allen vier Seiten in demselben Abstand vom Rand anbringst, ergibt sich später beim Abziehen ein gleichmäßiger Rahmen.
Gib deinem Bildträger (Papier/Pappe) einen Grundfarbton. Für diese Arbeit bietet sich die Farbe Weiß an. Grundiere also die gesamte Fläche mit weißer Acrylfarbe. Zum Auftragen der Farbe nutze einen breiten Borstenpinsel.
Nach dem Trocknen der Farbe gliedere die Fläche durch horizontale Bleistiftlinien. Miss dafür die Abstände – breite, schmale, wie du magst – zwischen den Linien an beiden Seiten des Papieres mit dem Lineal ab. Markiere die entsprechenden Abmessungen.
Verbinde die seitlichen Markierungen mit Bleistiftlinien.
Die so entstandenen horizontalen Streifen kannst du nun nach und nach farbig ausgestalten. Dazu stelle mit den von dir ausgewählten Farben und der Farbe Weiß ähnlich zarte, reduzierte Farbtöne her, wie sie Agnes Martin in ihren Arbeiten eingesetzt hat.
Wie, das zeige ich dir hier:
Für drei der Streifen möchte ich die Farbe Gelb verwenden. Dazu gebe ich Weiß auf den Teller, einen etwas größeren Klecks und einen kleineren Klecks Gelb.
Beim Mischen ist es sinnvoll, von der helleren Farbe auszugehen, hier also vom Weiß. Dazu mische ich ein wenig Gelb. Sollte der gewünschte Farbton noch nicht erreicht sein, gebe ich noch etwas Gelb hinzu. Sobald der Farbton passt, streiche ich die gemischte Farbe sehr gleichmäßig auf die entsprechende Fläche. Um nicht über die Linien zu benachbarten Streifen zu malen, kannst du diese mit Klebeband abgrenzen.
So mischt du nun auch die übrigen Farben. Ziel ist das Mischen sehr heller, zarter Farbtöne.
Zum Schluss lass dein Bild trocknen, du kannst es auch föhnen, um Zeit zu sparen. Mit dem Entfernen des Klebestreifens entsteht ein weißer Rahmen. Sollte das Papier nicht vollkommen glatt sein, presse es.
Jetzt seid ihr mit den Ideen und der Arbeit der Künstlerin Agnes Martin schon sehr vertraut und möchtet sicher mehr über sie und ihr Werk wissen. Wie war euer Eindruck anhand des Fotos von ihr? Bestimmt hat euch das Foto gut vermittelt, dass sie eine eher stille und zurückgezogene Person war. Es stammt aus dem Jahr 1977 und grenzt bewusst Emotionen und alles Unwesentliche aus. Den Kopf und damit den Verstand und das Denken zu betonen, war Agnes Martin wichtig. Sie fühlte sich dem Zen-Buddhismus und westlichem philosophischem Gedankengut verbunden. Sie wollte sich von starken Emotionen freimachen, da diese ihre Ausgeglichenheit ins Wanken bringen würden. Bewusst hat sie sich gegen Partnerschaft und Kinder entschieden. So lebte und arbeitete sie allein, seit den 1960er-Jahren überwiegend in der Einsamkeit in New Mexico, sie las keine Zeitung und hörte kein Radio. Die Abgeschiedenheit war für sie eine Möglichkeit, ihren Geist von allem Belastenden frei zu halten und somit für Inspirationen und kreatives Handeln offen zu sein.
So gibt es auch kaum private Informationen zu ihrer Person. Eine etwas ausführlichere Biografie findet ihr hier, denn wir beschränken uns im Folgenden nur auf einige Details, die euch den Weg zu ihrer Art zu arbeiten, zu ihrer Auffassung aufzeigen.
1912, also vor mehr als hundert Jahren, in einer völlig anderen Zeit, geboren, wuchs Agnes Martin in Kanada und den USA auf. Sie beschloss, Soziologie und Geschichte zu studieren, weil sie sehr an gesellschaftlichen Fragen interessiert war. Das ist sehr ungewöhnlich für ein junges Mädchen in dieser Zeit! Sie wechselte später die Fächerkombination und nahm Kunstvermittlung und freie Kunst hinzu, um Lehrerin zu werden. Der Lehrberuf war für unverheiratete Frauen eine Möglichkeit, unabhängig zu leben und ein Einkommen zu haben. Fast zwanzig Jahre studierte Agnes Martin mit vielen Unterbrechungen, denn sie musste auch als Lehrerin arbeiten, um das Geld für das Studium zu verdienen. Sie unterrichtete in den 1940er-Jahren z. B. Porträtmalerei und arbeitete selber in dieser Zeit figürlich. Es entstanden Blumen und Landschaften, aber sie malte auch indianische Motive. In den 1950er-Jahren lebte sie in New York, damals DIE Kulturmetropole in den USA. Das war eine sehr wichtige Lebensphase für Agnes Martin. Hier wohnte und arbeitete sie in direkter Nachbarschaft mit Künstler*innen, tauschte sich aus und nahm natürlich Inspirationen und Zeitströmungen auf: Der abstrakte Expressionismus überzieht nicht-gegenständlich die gesamte große Leinwand mit schriller Farbigkeit, die Farbfeldmalerei stellt die Farbe an sich und ihre Wirkung in den Mittelpunkt und der Minimalismus schließlich reduziert die Formensprache auf wenige geometrische Formen und nimmt neue industrielle Materialien in die Kunst auf. Künstler, die Agnes Martin besonders nahe standen und ähnliche künstlerische Auffassungen verfolgten, waren Ad Reinhardt (1913 – 1967), Ellsworth Kelly (1923 – 2015) und Mark Rothko (1903 – 1970). Wenn ihr euch Arbeiten dieser Künstler anschaut, werdet ihr Gemeinsamkeiten wie die All-Over-Struktur, also die gesamte ausgefüllte Leinwand, die Reduktion der Formen, die Abkehr von der gegenständlichen Malerei, das serielle Arbeiten und vor allem die Alleinstellung der Farbe bemerken. Aber auch die Einzigartigkeit der künstlerischen Umsetzung bei Agnes Martin.
1958 wurden ihre Werke erstmals ausgestellt. Neben Talent ist die Bekanntheit auch abhängig von Glück und dem Zufall, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und Menschen zu treffen, die unterstützen. Die Jahre in New York bildeten für Agnes Martin eine wichtige Grundlage, um später überwiegend in totaler Isolation zu leben und trotzdem nicht vergessen zu werden. Bereits in dieser Zeit entschied sich Agnes Martin dafür, in ihrer Kunst völlig auf Gegenständlichkeit zu verzichten. Keine Illusionen und keine Referenzen zur Natur oder Dingen, keine Abbilder! Sie arbeitete mit Gitter- und Rasterstrukturen, geometrischen Grundmustern, Dreiecken und auch Bögen und sich kreuzenden Linien, bevor sie sich ganz den parallelen Linien verschrieb. Auch experimentierte sie mit gezeichneten und durch Perforation in das Papier oder die Leinwand gedrückten Linien (die Arbeit „Freundschaft“, die ihr in dem Film der Tate Modern sehen könnt, ist dafür ein gutes Beispiel). 1967 zog sie sich für sechs Jahre in die Einsamkeit New Mexicos zurück. In dieser Pause arbeitete sie literarisch und veröffentlichte auch später immer wieder Notizen, Gedichte und Unterrichtskonzepte.
Die Arbeit, mit der sie 1973 wieder als bildende Künstlerin auftrat, ist eine Serie von 30 Siebdrucken mit dem Titel „On a clear day“, von denen weltweit nur 50 Stück in den Handel kamen. Es sind Studien zu horizontalen und vertikalen Linien in unterschiedlichen Konstellationen – ähnlich wie ihr euch bereits mit den ersten Arbeitsanregungen mit der Linie beschäftigt habt. Auch diese Arbeit befindet sich in der Sammlung der Kunsthalle Bielefeld! Es gibt auch einen gleichnamigen Film, der die Inspirationen zu dieser Arbeit aufzeigt.
Agnes Martin, On a Clear Day, Siebdruck, 1973
Sammlung der Kunsthalle Bielefeld, Foto: Ingo Bustorf
2015 wurde in der Tate Modern in London eine große Retrospektive mit dem Titel „Beauty is in your mind“ gezeigt, die anschließend in Düsseldorf, Los Angeles und New York zu sehen war. In dieser Ausstellung waren auch einige frühe Arbeiten der Künstlerin zu sehen, in denen biomorphe Formen, die noch an Naturformen erinnern, im Bildraum zu schweben scheinen. Viele frühere Arbeiten hatte Agnes Martin zerstört. Hier ein Eindruck für euch.
Agnes Martin hat anlässlich dieser Ausstellung auch ein Interview gegeben und sich bei der Arbeit filmen lassen.
Für Agnes Martin war die Schönheit das Geheimnis des Lebens. Ihr spürte sie in ihren Gemälden nach, und lädt ein, sie auf dieser Reise zu begleiten und natürlich auch eigene Wege zu gehen. Das können unterschiedlichste Wege sein – hier noch ein Beispiel aus der Welt des Klangs. Im Erkennen der Schönheit liegt das Glück, versprach sie uns.
„Künstlerische Arbeit, die vollkommen abstrakt ist – frei von jedem Ausdruck der Außenwelt, ist wie Musik und man kann sich in gleicher Weise auf sie einlassen.“ (Agnes Martin)
Die Musik des schweizer Komponisten Jürg Frey (*1953) ist besonders von der Malerei der Künstlerin Agnes Martin beeinflusst und geprägt. Vielleicht mögt ihr während eurer kreativen Arbeit sein Streichquartett anhören und den gegenseitigen Einflüssen nachspüren.
Anregung 5
Aber, lass dich nicht einengen von den Ideen der Künstlerin Agnes Martin und schon gar nicht von uns! Vielleicht sind die Linien, die deine Bleistifte oder deine Filzstifte auf dem Papier hinterlassen, keine geraden, parallel zum Bildrand verlaufenden Linien. Vielleicht sind sie krumm, wellig, zackig, sie bündeln sich an einigen Stellen und entfernen sich dann wieder voneinander oder sie wirbeln durcheinander.
Vielleicht brauchtest du die Linien von Agnes Martin nur, um auf diesem Umweg zu deinen Linien zu gelangen. Also warte nicht länger, bring sie aufs Papier!
Wir hoffen, es ist Agnes Martin und uns gelungen, euch Freude zu bereiten und euch ihr Werk nahe zu bringen. Das Gemälde „Untitled No. 17“ ist übrigens Teil einer zwanzigteiligen Serie. Das wäre ein herrlicher lichter Raum, wenn einmal alle Bilder miteinander präsentiert wären! Dass dieses Werk bereits seit 1980 in der Sammlung der Kunsthalle ist, ist etwas ganz Besonders, denn nur wenige Museen in Europa besitzen Arbeiten von Agnes Martin!
Möchtet ihr jetzt noch mehr über Agnes Martin oder die anderen erwähnten Künstler und Stile erfahren? Oder wollt ihr überhaupt einmal in Katalogen oder Monografien stöbern? Dann kommt doch einfach einmal in unsere Bibliothek. Ruft am besten vorher Tania Müller an. Sie kennt sich als Bibliothekarin nicht nur besonders gut aus, sondern ist auch überaus hilfsbereit. Sie würde euch – auch bei der Recherche für Referate z. B. – unterstützen.
Auf bald – eure Karola, Christiane und Matthias